Der elfjährige Merdan hat heute Glück. Zwei seiner MitschülerInnen sind krank, ihr Musikunterricht fällt daher aus. Und so kann Merdan dafür länger bei seiner Lieblings-Musiklehrerin Geigenunterricht haben. Denn der macht ihm unheimlich Spaß. Merdan ist einer von insgesamt zehn MusikschülerInnen der Hartwig-Claußen-Schule, dem einzigen Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Hören in der Region Hannover. Und: Merdan macht mit bei dem Pilotprojekt „Aus der Stille in den Klang“ von Aktion Kindertraum. Heute ist seine siebte Stunde bei Elena Kondraschowa, die das Projekt initiiert hat und den Kindern auf dem Klavier oder auf der Geige Unterricht gibt. Der von Geburt an hörgeschädigte Merdan bekam schon ganz früh, mit nur acht Monaten, ein Cochlear-Implantat (CI) eingesetzt, mit dessen Hilfe er jetzt viel besser hören kann. Und so fällt ihm das Geigenspiel auch überhaupt nicht schwer…

Zupfen oder Streichen, das ist die Frage…
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Merdan zupft an den Saiten seiner Geige zum Klavierspiel von Elena.

„Möchtest Du heute lieber zupfen oder streichen?“, fragt Elena ihn. Merdan entscheidet sich dafür, erst einmal auf der Geige die Saiten zu zupfen. Später darf er dann auch den Bogen benutzen. Elena lobt ihn: „Die Geige mag Dich, weißt Du das? Sie klingt richtig gut!“ Merdan ist ganz stolz. Und für die Mama, die ihn abholt, übt er dann noch ein eigenes kleines Lied, das Elena mit dem Klavier begleitet. „Liebe Mama, hör mal an, was ich auf der Geige kann!“ Dass der Unterricht bei Elena Spaß macht, sieht man Merdan an. Und Elena, die eine Engelsgeduld mit ihren SchülerInnen hat und sie immer wieder motiviert, freut sich über sein sichtliches Talent.

Aber jetzt zu Elena. Wir möchten sie Ihnen heute einmal vorstellen, denn sie ist ja die Triebfeder beziehungsweise Initiatorin dieses tollen Projekts, über das sie gerne informiert. In der Stillen Station zu unserem Workshop-Meeting für das Projekt,  haben wir ein Interview mit ihr gemacht. Hier könnt Ihr einmal reinhören und -schauen.

Und hier erzählen wir Ihnen noch ein bisschen mehr zu Elena Kondraschowa, die eine wirklich experimentierfreudige Gratwanderin und unermüdliche Botschafterin im Dienste der Musik ist. In Moskau geboren und am Tschaikowsky-Konservatorium ausgebildet, verfolgt sie seit mehr als 40 Jahren eine rege solistische und pädagogische Karriere. Der humanistische Aspekt der Musik ist ihr dabei ein großes Anliegen. Neben regelmäßigen solistischen und kammermusikalischen Auftritten bemüht sie sich um die Aufführung während des Nationalsozialismus verfemter Komponisten. Mit ihren SchülerInnen tritt sie für Senioren auf und hat mehrere Jahre beim Projekt „Musicians of Tomorrow“ von Maxim Vengerov im israelischen Migdal israelische und palästinensische Kinder aus prekären Verhältnissen ehrenamtlich unterrichtet. Ihre Schülerschaft erzielt wiederholt Höchstbewertungen bei unterschiedlichen Musikwettbewerben auf Landes- und Bundesebene.

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Ein starkes Team für ein starkes Projekt: Elena Kondraschowa und Ute Friese haben das Projekt „Aus der Stille in den Klang“ möglich gemacht.
Elenas Schwester ertaubte als Kleinkind vollständig

Schon als Teenager wurde die Diplom-Musikerin und -Pädagogin mit dem Thema Hörproblematik vertraut: Durch ihre Schwester, die im Kleinkind-Alter fast vollständig ertaubte, was ein großer Schicksalsschlag für die Familie war. Zwar trug sie schon als Kind ein Hörgerät, aber das half ihr nicht viel. Deshalb lernte sie Lippen lesen. Immer wenn Elena Geige spielte, war die Schwester fasziniert. Sie holte dann aus der Küche einen Schaumlöffel, sowie eine Flaschenbürste mit geriffeltem Stab, klemmte sich das Metallteil unter das Kinn und imitierte die größere Schwester beim Geigenspiel. Damals schon merkte Elena Kondraschowa, dass ihre Schwester dabei etwas empfand: Das Bürstenspiel war bei der kleineren Schwester in Kiefer und Schlüsselbein spürbar. Daraufhin gab ihr Elena Geigen- und später auch Klavierunterricht.

Die Geige hilft Hörgeschädigten, die Musik zu fühlen, besser zu hören und zu sprechen

So begann bei Elena Kondraschowa das Interesse an der Arbeit mit hörgeschädigten Menschen im Zusammenhang mit Musik. Heute kommuniziert ihre Schwester, die inzwischen ebenfalls in Deutschland lebt, sowohl laut- als auch gebärdensprachlich. Elena und ihre Schwester sind davon überzeugt, dass ihr das Lernen der Sprache durch das Spielen eines Instruments als Kleinkind wesentlich leichter fiel. Diese so entstandene Idee, hörgeschädigten Kindern die Musik näher zu bringen und sie so schneller – dank Cochlea-Implantat – in diese neue Sinneswelt zu integrieren, hatte Elena Kondraschowa bereits 2014. Im Jahr 2016 gründete sie mit FreundInnen den Verein „Aus der Stille in den Klang“ – und startete an der Hartwig-Claußen-Schule mit Unterstützung von Aktion Kindertraum ihr gleichnamiges Projekt zu Anfang des Schuljahres 2018/2019 mit acht Kindern einer dritten Klasse, die einmal wöchentlich parallel zum Schulunterricht Einzelunterricht mit der Geige erhielten.

Geigen werden für Kinder angepasst…
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Babygeige für kleine Kinder ab eineinhalb Jahren, Dreiviertel Geige für Elfjährige, in diesem Fall Merdan. Violinen gibt es in allen möglichen Größen, passend für jedes Kind.

Elena wollte ausprobieren, ob es den TrägerInnen eines Cochlea-Implantats möglich ist, durch das Erlernen der Violine und das Erspüren von Vibrationen auf dem Schlüsselbein Musik zu „hören“, Tonhöhen und Klangfarben wahrzunehmen. Hilfe bekam sie unter anderem von Barbara Eßer-Leyding, der Leiterin des Cochlea Implantat Centrum (CIC) Wilhelm Hirte in Hannover. Sie vermittelte den Kontakt zur Hartwig-Claußen-Schule sowie zu einem Instrumenten-Sponsor. Dieser finanzierte Instrumente und Bögen für alle Schülerinnen. Sämtliche Geigen wurden dann für das jeweilige Kind individuell von Geigenbaumeister Björn Lampe (Hildesheim) ausgesucht und angepasst. „Aktion Kindertraum“ finanzierte die Personalkosten für den Geigenunterricht. Außerdem meldeten sich ganz viele Sponsoren, die uns Geigen für das Projekt zur Verfügung stellen. Aber das ist eine weitere tolle Geschichte, über die wir hier demnächst berichten werden…

Kinder erkennen Unterschied zwischen Moll und Dur, trauriger oder fröhlicher Musik

Der Unterricht zeigte erste große Erfolge: Bereits wenige Monate nach den ersten Unterrichtseinheiten im September 2018 spielten alle Kinder beim Weihnachtskonzert der Schule mit. Sie konnten auch Moll von Dur unterscheiden, also ob ein Musikstück eher traurig oder fröhlich klingt.

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Auch am Klavier lassen sich Töne „erspüren“, stellt Merdan fest.
„Geige steigert Effektivität des Cochlea-Implantats“

Elena ist sich sicher: „Durch den Einsatz der Geige steigert sich die Effektivität des CI um ein Vielfaches! Den Kindern werden so völlig neue Hörwelten erschlossen. Sie verstehen Sprache besser und nutzen audiovisuelle Medien, um Musik hören.“ Elena weiter: „Das Musizieren hilft den Kindern außerdem, verschiedene Wahrnehmungsbereiche miteinander zu verknüpfen: visuelle, haptische und akustische. Ein Laut wird dabei nicht nur über das CI empfunden, sondern aus verschiedenen Quellen. Dadurch lernen die Kinder, gleiche Informationen – wie musikalische Laute – richtig einzuordnen und zusammenzufassen.“ Elena geht davon aus, dass diese Wahrnehmung der Musik gleichzeitig auch die Wahrnehmung der Umweltgeräusche und der Sprache fördert und unterstützt. Um dies auch wissenschaftlich nachweisen zu können, entstand die Idee, das Projekt „Aus der Stille in den Klang“ zu erarbeiten.

Das erste Mal Geige spielen: Liebe auf den ersten Ton!

Elena ist immer wieder ganz besonders fasziniert, wenn die Kinder das erste Mal bei ihr eine Geige in die Hand nehmen und ausprobieren dürfen: „Der Gesichtsausdruck der Kinder, ihre leuchtenden Augen, Bewunderung, Entzücken. Es ist quasi Liebe auf den ersten Ton. Ich denke noch an ein Mädchen, die ihre Geige mit ins Krankenhaus nahm. Und nach der CI-Implantierung mit noch verbundenem Kopf und der Kanüle im Arm wollte sie unbedingt üben. Wir haben geübt: Danach hat sie für die Krankenschwestern, in der Cafeteria und der Einkaufsstraße der MHH kleine Konzerte gespielt!“

Übrigens, Elenas Motto stammt von Star-Violinist Yehudi Menuhin: „Die Musik spricht für sich allein. Vorausgesetzt, wir geben ihr eine Chance!“