Ein Interview mit Johanna Ruoff, Gründerin der Stiftung “Ein Platz für Kinder” und der “Mattisburgen”
Ein sicherer Ort für Kinder sollte nicht nur ein Wunsch bleiben: Die „Mattisburgen“ sind Kinderschutzhäuser für traumatisierte Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Wir von Aktion Kindertraum unterstützen die Ein „Platz für Kinder“ und die „Mattisburgen“ schon sehr lange und von ganzem Herzen und werden dies auch in Zukunft weiter so halten.
Antonia Bodenschatz und Tanja Hertl von unserer Partneragentur cocodibu führten mit Johanna Ruoff, die die Stiftung „Ein Platz für Kinder“ ins Leben rief, ein Interview, das Einblicke bietet in die alltäglichen Herausforderungen und die Hoffnung, die sie antreibt.
Weltweit leiden etwa 300 Millionen Kinder unter häuslicher Gewalt, die Dunkelziffer ist laut Experten deutlich höher. Denn obwohl dieses Thema in der Öffentlichkeit als bedeutend eingestuft wird, bleibt oft verborgen, was sich hinter den eigenen vier Wänden abspielt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Schamgefühle oder das junge Alter der Kinder, die sich nicht wehren können, sind nur einige davon. Zudem stellt sich oft die Frage, ab wann Gewalt beginnt – bei verletzenden Worten, einer Ohrfeige oder einem Klaps auf den Hintern? Während viele diese Methoden noch immer als bewährte Erziehungsmaßnahmen ansehen, führen sie bei Kindern zu schwerwiegenden Traumata, die sich in Trauer, Unsicherheit oder Aggression manifestieren können. In einer Welt, in der Kinder oft von diesen “unsichtbaren Narben” gezeichnet sind, leistet Johanna Ruoff mit ihrer Stiftung „Ein Platz für Kinder“ und den „Mattisburgen“, besonderen Schutzhäusern, einen wesentlichen Beitrag.
Seit über einem Jahrzehnt engagiert sie sich schon für dieses Projekt, das auch wir von Aktion Kindertraum unterstützen dürfen. In den “Mattisburgen” erhält jedes Kind individuelle Aufmerksamkeit und spezialisierte Bildung in einem sicheren Umfeld, um seine Traumata zu überwinden.

Anlässlich des kürzlich stattgefundenen „Tages für gewaltfreie Erziehung“ haben wir Johanna Ruoff zu ihrer Arbeit in den „Mattisburgen“ und zu diesem wichtigen Thema interviewt. Im Gespräch mit ihr haben wir Einblicke in die komplexen Aspekte ihrer Arbeit und die emotionalen Herausforderungen erhalten, denen sie sich täglich stellen muss. Johanna spricht offen über ihre Erfahrungen, die Bedeutung der „Mattisburgen“ und die dringenden Bedürfnisse der Kinder, die dort Zuflucht finden.
Wie viele Kinder und Jugendliche erleben Gewalt? Und wie hoch ist deiner Meinung nach die Dunkelziffer?
Jedes Kind hat das Recht, frei von Gewalt aufzuwachsen. Doch weltweit erfahren unzählige Kinder Gewalt in ihrem Alltag. Gewalt gegen Kinder ist weit verbreitet – kein Land und keine Gesellschaft ist frei davon. Weltweit sind Schätzungen zufolge jedes Jahr eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen – das ist jedes zweite Kind. (vgl. Unicef). Allein in Deutschland kam es im Jahr 2022 zu über 62.000 Fällen bestätigten Fällen einer Kindeswohlgefährdung. Aufgrund von vielen Initiativen, die sich um die Prävention und eine Aufklärungsarbeit kümmern, und zusätzlichen gesetzlichen Verbesserungen kann man nur hoffen, dass sich die Hell- und Dunkelziffer kontinuierlich annähern wird. Das tatsächliche Ausmaß von Gewalt gegen Kinder lässt sich aber noch kaum erfassen.
Wie unterstützen die „Mattisburgen“ Kinder, die familiäre Gewalt erlebt haben?
Wir übernehmen Verantwortung für Kinder, die Unzumutbares erlebt haben und dadurch immer wieder an Grenzen kommen und Systeme sprengen, sobald ihre Erfahrungen unverstanden und ihre Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Wir fühlen uns zuallererst dafür verantwortlich, jedem Kind in unserer Einrichtung einen sicheren Ort und wirksamen Schutz vor erneuten Traumatisierungen zu gewährleisten.
Wir bilden durch unsere Arbeit die Grundlage für Kinder, traumatische Erfahrungen der körperlichen oder seelischen Misshandlung, der Vernachlässigung oder sexuellen Gewalt in einem geschützten Rahmen zu verarbeiten. Fehlende Gefühle, Misstrauen, massive Angst, Wut und das Kontrollbedürfnis der Kinder haben ihre Berechtigung, ihr herausforderndes Verhalten gute Gründe, die wir verstehen möchten
Welche Herausforderungen begegnen dir in deiner täglichen Arbeit?
Jeder Tag ist ein anderer – und immer ein Spagat zwischen planbaren und unvorhergesehenen Aufgaben.
Am meisten sind es die Kinderschicksale, die mir immer unter die Haut gehen und wo wir uns entscheiden müssen: Wer bekommt einen Platz oder nicht – wenn überhaupt ein Platz frei ist. Jeder Tag ist ein spannender Tag, der mich vor viele Herausforderungen stellt und man wird am Ende des Tages – egal wie er war – belohnt, wenn man die Kinder im Haus hören kann. Dann weiß ich, wofür ich meine Arbeit leiste.
Wie unterscheiden sich der Tagesablauf bzw. die Schulstunden im Vergleich zu Kindern, die keine Gewalt erleben mussten? Was muss man im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen beachten?
Um den Leitsatz der Einrichtung umzusetzen, wird im „Therapeutischen Internat Sternstunden Mattisburg“ ein ganzheitliches traumasensibles Umfeld geschaffen, in dem therapeutische Erfahrungen nicht nur in der Einzeltherapie, sondern auch im Alltag gemacht werden können. Dafür haben wir die Möglichkeit, auf jedes Kind individuell einzugehen und den Alltag nach seinen Bedürfnissen zu planen. Dies kann bei einem Kind bedeuten, dass es vermehrt Ruhezeiten braucht, bei einem anderen Kind wiederum, dass es einen hohen Bewegungsdrang hat. Durch die Kooperation mit der ansässigen Förderschule und das Konzept, den Schulunterricht für die Kinder direkt im Haus anzubieten, haben wir auch hier die Möglichkeit, dass sich das Schulsystem an das Kind und dessen Bedürfnisse anpassen kann.
Wie können sich Gemeinschaften oder Einzelpersonen engagieren oder deine Arbeit unterstützen?
Johanna: Unterstützen kann man uns sehr vielseitig: Es ist mal der Kuchen, der für unsere Kinder gebacken wird oder auch für unsere Mitarbeitenden. Mit einer Sachspende wie neue Spielsachen, Kleidung für die Kinder oder auch mit Spenden und natürlich auch mit Know-how für unsere Einrichtungen.
Was wünschst du dir für die Zukunft der Mattisburgen und der Kinder, die deine Kolleg:innen und du betreuen?
Mehr Zeit für jedes Kind, mehr finanzielle Mittel, dass wir den Kindern noch mehr Therapien anbieten können und auch auf unsere Mitarbeiter:innen durch Zusatzleistungen für die Gesundheit unterstützen können.
Wie schätzt du die aktuelle öffentliche Wahrnehmung und das Bewusstsein für familiäre Gewalt in unserer Gesellschaft ein?
Das gesellschaftliche Bewusstsein hat sich geändert und familiäre Gewalt hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen höheren Stellenwert bekommen. Missstände werden heute eher benannt, während man früher noch mehr unter den Teppich gekehrt hat. Vor allem das pädagogische Netzwerk der Kinder wie die Lehrer:innen, Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen arbeiten heute enger zusammen, dadurch können Kindeswohlgefährdungen schneller erkannt werden. Aber dennoch stehen wir noch am Anfang und dieses Thema kann nicht genug Aufmerksamkeit bekommen.
Hierfür braucht es kontinuierliche Aufklärungsarbeit über häusliche Gewalt und Kinderechte in z.B. Medienkampagnen.
Welche Veränderungen in der Gesetzgebung oder in öffentlichen Politiken würde deiner Meinung nach die wirksamste Unterstützung für Kinder bieten, die familiäre Gewalt erleben?
Es braucht vor allem im Bereich der Präventionsarbeit Veränderungen in der Gesetzgebung und mehr finanzielle Mittel. Ebenso braucht es auch die öffentliche und politische Wahrnehmung für die hohe Wichtigkeit von präventiven Angeboten. Gerade in den frühen Stadien einer familiären Krise brauchen Eltern oftmals nur wenig Hilfe, um schädliche Muster zu durchbrechen und wieder besser für ihre Kinder da sein zu können. Hierfür benötigt es ambulante und offene Angebote, damit Familien gestärkt werden.
Liebe Johanna,
herzlichen Dank für deine offenen Worte und dein unermüdliches Engagement. Wir freuen uns sehr, dich als Partnerin an unserer Seite zu haben. Wir freuen uns auf weitere gemeinsame Projekte und darauf, weiterhin Hand in Hand für das Wohl der Kinder zu arbeiten.