Seit 2004 findet alljährlich am dritten Freitag im November der Bundesweite Vorlesetag statt. Die gemeinsame Initiative von DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung begeistert Kinder und Erwachsene gleichermaßen, denn das Hören von Geschichten ist tief in unseren Zellen verankert. Es ist Teil der Erfolgsgeschichte, die vor 300.000 Jahren für die Menschheit begann. Über das gesprochene Wort in Form von Geschichten gaben Menschen – von Generation zu Generation – lebensnotweniges Wissen weiter. Mit dem Aufkommen der Schriftsprache wurden diese Geschichten aufgeschrieben, vorgelesen und auf diese Weise vermittelt. Bis heute.

Der Bundesweite Vorlesetag setzt somit nicht nur ein öffentliches Zeichen, sondern erinnert uns daran, wie wichtig das Vorlesen von Geschichten für unsere Kinder ist. Doch wer liest eigentlich gehörlosen oder hörbehinderten Kindern vor? Inklusion wird heute in vielen Bereichen großgeschrieben und ist zur Selbstverständlichkeit geworden, doch im Bereich des Vorlesens findet Inklusion kaum statt. Das Einbeziehen von Gebärdensprachdolmetscher*innen oder -darsteller*innen, die das vorgelesene Wort in Gebärden übersetzen, ist aufwendig und kostenintensiv. Somit bleibt die Vorlesewelt für gehörlose und hörbehinderte Kinder weitestgehend verschlossen.

Foto Blogbeitrag 2 - Vorleseabenteuer für gehörlose und hörbehinderte Kinder
So sieht es aus, wenn Toma Kubiliute die Geschichte von Albie Alba in Deutsch-Deutscher-Gebärdensprache „vorliest“.

Doch für gehörlose und hörbehinderte Kinder ist es genau so wichtig, Wissen vermittelt zu bekommen, damit sie sich – von Anfang an – in der Welt, in der sie leben, und im Alltag besser zurechtfinden können. Sie werden so ein wertvoller Teil der Gesellschaft. Dafür brauchen sie – wie auch hörende Kinder – die Möglichkeit, den Raum ihrer Phantasie zu betreten, um mit ihren Held*innen Abenteuerreisen zu erleben, mitzufiebern und ganz nebenbei soziale und emotionale Kompetenzen einzuüben. Das Vorlesen erweitert den Schatz neuer Wörter und fördert die Konzentration. Auch das weite Feld der Schriftsprache wird durch die Verbindung von Gebärden und Text erobert, denn hört das Ohr nicht mit, ist die richtige Anwendung von Rechtschreibung und Grammatik für Kinder ohne Gehör wie Mathematik rückwärts gedacht. Doch wie packen wir das Vorlesen für diese Kinder auf eine möglichst einfache und unkomplizierte Weise an?

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als das Leben für uns alle sehr, sehr still war? Als Theater, Kinos und Restaurants geschlossen waren? Es war die Zeit des Lockdowns. In dieser Zeit der Stille, im Frühjahr 2021, startete Irina Monnée eine Initiative: Sie lud mich zu einer Lesung bei den Gebärdenfüchsen für gehörlose und hörbehinderte Kinder ein. Es war meine allererste Lesung mit „Abie Alba – Der große Traum vom Weihnachtsbaum“, ein Kinderbuch, das ich ein halbes Jahr zuvor zusammen mit der Illustratorin Lisa Sauerborn veröffentlicht hatte. Über Zoom erreichten wir 43 Familien! Auch Linn, Irinas Tochter, ein taubes Mädchen, welches in eine hörende Familie geboren wurde, war mit dabei. Die Begegnung hatte mich damals sehr berührt, auch als ich erfuhr, dass Irina die MUTTERsprache ihrer Tocher erst einmal selbst erlernen musste! Mit zur Lesung eingeladen war die Gebärdensprachdarstellerin Toma Kubiliute, die meine Lesung für die Kinder gebärdete. Dieses gemeinsame Erlebnis habe ich tief in mein Herz geschlossen. Die Lebendigkeit und Freude, mit der Toma meine Geschichte gebärdete, war einfach wundervoll.

Ein Jahr später hatte ich beim Joggen eine Idee. Ich war gerade in die Zusammenarbeit mit UK-Coach (UK=Unterstützte Kommunikation) Maike Freiberg getreten, und immer mal wieder war die Rede von QR-Codes und wie man diese geschickt zum Einsatz bringen könnte. Ich joggte also durch Berlin Kreuzberg und dachte auf einmal: Wie wäre es, „Abie Alba“ als bilinguale Sonderausgabe in Deutsch-Deutscher Gebärdensprache (DGS) zu veröffentlichen? Man könnte im Buch QR-Codes einbetten, die zu Videos führen, in denen der vorliegende Text gebärdet und somit „vorgelesen“ wird. Irina und Toma waren begeistert und sofort mit dabei. Doch da ich und mein Team verlagsunabhängig arbeiten und seit drei Jahren in die Kinderbuchreihe investieren, brauchten wir eine Finanzierung.

Wir bekamen die Empfehlung, uns an Aktion Kindertraum zu wenden und rannten bei der Geschäftsführerin Ute Friese offene Türen ein. Wir bekamen die Zusage über Nacht und setzten mit gemeinsamer Kraft die Projektidee in nur wenigen Wochen um. Die Resonanz aus der sehr gut vernetzten Gebärdensprachwelt war riesig, und wir würden uns wünschen, wenn unsere Idee viele Nachahmer findet. Wir haben jedenfalls vor, auch die weiteren Bände unserer Kinderbuchreihe „Abie Alba“ eines Tages für gehörlose Kinder zugänglich zu machen, um sie in große Vorleseabenteuer mitzunehmen – zusammen mit Abie Alba und unseren großen und kleinen Baumprotagonisten.

Foto Katrin Buehring Autorenfoto 300dpi 1024x1024 - Vorleseabenteuer für gehörlose und hörbehinderte Kinder

Dieser Blogbeitrag wurde geschrieben von Katrin Bühring, der bekannten Schauspielerin, Drehbuchautorin und Kinderbuchautorin. Sie hat in zahlreichen Fernsehfilmen und -serien mitgewirkt. Im Herbst 2020 startete sie mit der Kinderbuchreihe „Abie Alba“.