Es gibt Familien, die wir nicht vergessen werden, weil uns ihr Schicksal außerordentlich nahe geht, weil es uns emotional beschäftigt. So geht es allen im Team, vor allem aber der Mitarbeiterin, die den Wunsch koordiniert. Heute schreibt Karina über ihre Gedanken und Gefühle, wenn sie sich an den Wunsch nach einem Familienurlaub von Evelyn und ihrer Familie erinnert.
Wir haben nicht viel Zeit
Die Anfrage für die Wunscherfüllung von Evelyn erreichte uns durch die Familienhelferin am 05.10.2023: Das kleine Mädchen hatte einen sehr stark lebensverkürzender Gendefekt. Schnell war klar: Wir haben nicht viel Zeit!
Sofort fing ich an, wichtige Informationen zu der Wunscherfüllung zu erfragen. Wie weit kann die Familie reisen? Was müssen wir bei der Unterkunft beachten? Welche Bedürfnisse haben die zwei Brüder Leon und Liam? Wann kann es los gehen? Gibt es vom behandelnden Arzt ein Okay für die Reise?
Einen Tag später telefonierte ich mit der Familienhelferin Doreen. Um die Familie nicht weiter zu belasten, erfolgte die gesamte Kommunikation über sie. Die ersten Fakten waren: keine weite Anreise und keine Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es sollte eine Art Freizeitpark sein, in dem die Brüder auch ohne die Eltern etwas erleben durften. Ich suchte anschließend eine passende Unterkunft die maximal 200 km vom Wohnort der Familie entfernt sein durfte. Die Familie lebt in einem kleinen Ort in der Nähe von Magdeburg. Bei der Recherche fand ich den Center Parc Bispinger Heide. Alles passte: Die Entfernung, die möglichen Aktivitäten vor Ort und auch ein Schwimmbad war vorhanden.

Da Leon bereits schulpflichtig war, bevorzugten die Eltern Jessica und Angelo die bevorstehenden Herbstferien. Ich kontaktierte Center Parcs und bekam ziemlich schnell einen Rückruf von einer sehr freundlichen Mitarbeiterin. Ihr ging das Schicksal der Familie sehr nah und sie versprach mir, unsere spezielle Anfrage schnell intern zu klären.
Zwei Tage später kam der Anruf und ich hatte ein Angebot vorliegen, was meine Erwartungen übertroffen hat. Wir mussten lediglich die Unterkunft finanzieren alles andere wollte Center Parcs übernehmen. Dazu gehörte das All Inclusive Arrangement und viele Aktivitäten. Damit die Familie keine weiten Wege zu Fuß machen muss, denn es musste stets einiges medizinisches Equipment für Evelyn dabei sein, stellte der Parc ein Golf Car zur Verfügung. Zusätzlich bekam die Mama eine Massage geschenkt.
Meine Freude war sehr groß. So viel Herzlichkeit und Menschlichkeit tut gut. Ich besprach alles mit der Familienbetreuerin und buchte 5 Tage für diesen ersten und letzten Familienurlaub.
Ein Treffen am Urlaubsort
Für den 14.10.2023 verabredete ich mich mit der Familie im Center Parc. Ich war sehr nervös. Wir wissen nie so richtig, was uns erwartet. Als ich Evelyn das erste Mal sah, konnte ich nicht glauben, dass dieses Mädchen älter als ein Jahr war. Für mich sah Evelyn aus wie ein kleines Baby. Sie lag bei Mama eingekuschelt im Arm und zeigte kaum Reaktionen.

Die Eltern waren sehr offen und erzählten mir, wie sich ihr Leben seit Evelyns Geburt verändert hatte: „Evelyn kam am 18.08.2022 zunächst als völlig gesundes Mädchen zur Welt. Sie entwickelte sich völlig normal. Im Februar 2023 fing es an, dass sie kaum noch zu beruhigen war und nur noch am Schreien war. Zeitgleich nahm Evelyns Beweglichkeit zunehmend ab. Wir gingen von einem Arzt zum nächsten und keiner konnte so richtig sagen, was los ist, weshalb wir dann in die Leipziger Uni-Klinik geschickt wurden.
Es folgten unzählige Untersuchungen: Blutabnahmen, MRT, EEG, Lumbalpunktion. Im Mai erhielten wir die erschreckende Diagnose: Morbus Krabbe. Eine unheilbare Krankheit! Der Moment, in dem uns der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Der Moment, in dem wir anfangen mussten, zu verstehen, dass unsere Tochter frühzeitig sterben wird. Und neben der tiefen Leere in uns hatten wir unzählige Fragen. Wie geht es weiter? Wie viel Zeit bleibt uns noch? Wie erklären wir es den Kindern?
Wir entschieden uns dazu, weitere Meinungen einzuholen, weshalb wir mit Evelyn nach Hamburg fuhren, um uns dort im Krankenhaus beraten zu lassen. Es wurde eine Behandlung vorgeschlagen, die noch nicht richtig erprobt war. Gemeinsam mit den Ärzten aus Hamburg entschieden wir uns, diese Behandlung nach Evelyns 1. Geburtstag zu beginnen. Dafür musste ein Medikament aus Brasilien eingeflogen werden. Ende August war es dann soweit: der Termin für das Vorgespräch. Leider mit erschütternden Informationen. Im Gespräch wurden die beispielhaften Nebenwirkungen erklärt. So erschreckend, dass wir uns dagegen entschieden, denn wir wollten nicht, dass Evi noch mehr leiden muss.“
„Wir lassen sie gehen, wenn sie nicht mehr kämpfen will“
Seit dem Besuch im Center Parc war ich in engem Kontakt mit den Eltern und der Betreuerin. Denn es gibt Familien, mit denen der liebevolle Kontakt weiterhin besteht, selbst, wenn der Wunsch erfüllt wurde und für mich eigentlich abgeschlossen ist. Ende November erreichte mich dann die Nachricht, dass Evi im künstlichen Koma auf der Intensivstation liegt.
Was war passiert? Jessica erzählte später über die Zeit im Krankhaus „,24.11.2023, ein Tag der ganz normal verlief bis zum Nachmittag. Evi konnte auf einmal nicht mehr schlucken. Das Atmen fiel ihr schwer. Eine Krankenschwester aus dem Hospiz kam sofort zu uns und machte sich ein Bild von Evi.
Wenige Zeit später wurde Evi gräulich blau im Gesicht. Wir hatten Angst, dass unsere Tochter in diesem Moment ersticken würde. Wir riefen einen Rettungswagen. Evis Zustand verbesserte sich während der Fahrt, doch im Krankenhaus gingen alle Werte von einem auf den anderen Moment runter. Die Ärzte nahmen unsere Tochter und brachten sie in den Schockraum. Das Letzte, was wir sahen, bevor die Tür zuging, war, wie die Ärzte die Kleidung unserer Tochter aufschnitten.
Evi musste reanimiert werden und anschließend ins künstliche Koma gelegt werden. Darauf folgten nur noch weitere negative Nachrichten. Evi kann von nun an ohne Unterstützung nicht mehr atmen. Tage die nicht enden wollten. Nächte ohne Schlaf. Wir wussten, es könnte jeden Moment zu Ende sein. Zwei Tage nachdem sie wieder aus dem Koma geholt worden ist, hatten wir ein ausführliches Gespräch mit den Ärzten, in dem wir uns entschieden, dass wir so lange kämpfen, solange Evi kämpft. Aber wir wussten auch, dass wir sie gehen lassen müssen, wenn sie nicht mehr kämpfen will.“

Auch wenn die Eltern um den Zustand der Tochter wussten, sind diese Momente ein Schock. Ich fragte mich oft: Wie müssen sich Eltern fühlen, wenn sie um das Leben des eigenen Kindes bangen.
Da meine eigenen Kinder gesundheitlich auch einiges durchmachen mussten, weiß ich, wieviel Sorgen und Kummer man haben kann. Wie viele Nächte man wach liegt und man keinen klaren Gedanken fassen kann. Aber zu wissen, mein Kind stirbt und ich kann nichts dagegen tun – das mag ich mir nicht vorstellen.
Evis Eltern planen die Trauerfeier
Am 08.12.23 durfte Evi dann endlich wieder nach Hause. Die Familie bekam ein Sauerstoffgerät, das Evis Atmung unterstützen sollte. Ab jetzt kam auch täglich eine Intensivschwester zu der Familie nach Hause. Sie wussten alle nicht wie viel gemeinsame Zeit noch bleibt und genossen jede Sekunde mit ihrer Tochter umso mehr. In dieser Zeit planten die Eltern die Trauerfeier, denn sie wollten Evi einen schönen Abschied gestalten.
Am 28.12.23 erreichte mich am Vormittag die traurige Nachricht, dass Evi für immer eingeschlafen ist. Ich habe leider schon öfter eine solche Nachricht von unseren Wunschfamilien gelesen oder gehört. In solchem Moment steht die Zeit still. Egal was ich gerade mache, ich höre auf damit. Ich nehme mir die Zeit, einfach still zu sein. Sofern es möglich ist, zünde ich eine Kerze an. Ich bin in Gedanken bei der Familie. Was da los sein muss, welche Trauer ihr Zuhause jetzt erfüllt – alles unvorstellbar.

Einige Tage später schickte mir Jessica die Traueranzeige. Jetzt habe ich es schwarz auf weiß. Was mache ich? Fahre ich zur Trauerfeier? Bin ich erwünscht? Ich habe im Team darüber gesprochen und Ute sagte sofort: „Wenn du dir das zutraust und das möchtest, kannst du gerne fahren.“
Traue ich mir das wirklich zu? Ja, ich werde dabei sein! Selbstverständlich fahre ich zur Beerdigung. Was bringe ich mit? Wie wünscht es sich die Familie? Es sind so viele Fragen, die man sich plötzlich stellt. Ich entschied mich, einen Kerzenhalter in Form eines kleinen Engels mitzunehmen.
Es sind nicht viele Menschen, aber die wichtigsten
Die Trauerfeier fand am 11.01.2024 statt. Ich fuhr frühmorgens los, damit ich pünktlich auf dem kleinen Friedhof in einem kleinen Ort in der Nähe von Magdeburg bin. 120 km lagen vor mir und viele Gedanken. Ich habe vorher schon viele Bilder von dem selbstgestalteten Sarg bekommen. Somit hatte ich bereits eine Vorstellung, wie es aussehen wird. Als ich in das Dorf reinfuhr, suchte ich als erstes den Friedhof. Weil ich aber noch viel Zeit hatte, fuhr ich einfach weiter und fand einen Bäcker, bei dem ich ein bisschen Seelennahrung und einen Kaffee bekam.
Kurz vor 11 Uhr fuhr ich zum Friedhof. Ich sah die sehr kleine Kapelle, einige Menschen. Es war sehr kalt an diesem Tag aber die Sonne schien genau auf den kleinen bunt bemalten Sarg. Ein Bild, was mich sofort zu Tränen rührte.

Es waren nicht viele Menschen da, aber die wichtigsten in Evelyns kurzem Leben.
Nach der Trauerfeier der Gang zum Grab. Als dieser kleine Sarg in die Erde gelassen wurde, brach ich in Tränen aus. Das sind Gefühle, die man nicht in Worte fassen kann.
Erst nachdem wir vom Grab weggingen, realisierten Jessica und Angelo, dass ich da war. Wir haben kurz gesprochen und sie haben mir erzählt, dass unserer Maskottchen Twinky bei Evi im Sarg ist und sie mit zu den Sternen nimmt.

Von den Fotos weiß ich, dass auch mein Engel an Evis Grab steht und die Kerze brennt. Das macht mich sehr glücklich.
Ein Leben geht, ein Leben entsteht
Einige Wochen später sah ich in Jessicas WhatApp Status ein Ultraschallbild. „Wow, wie schön!“, dachte ich. Ein Leben geht, ein Leben entsteht…
Der errechnete Geburtstermin war der 18.8.2024. Unfassbar! Das war zwei Jahre früher der Geburtstag von Evelyn! Allerdings gab es leider Komplikationen, sodass Colin Matteo am 23.7.2024 per Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurde. Colin ist ein gesundes Baby und macht die Familie glücklich und stolz.
Evelyn bleibt unvergessen und passt jetzt von ihrem Stern dort oben auf ihre drei Brüder auf.